Pfarrer Dornseiffers Wirken aus einem anderen Blickwinkel gesehen


"....um die Errungenschaften der Neuzeit auf landwirtschaftlichem Gebiete sich zu Nutzen zu machen": Pfarrer Dornseiffers Worte bringen es auf einen Nenner. Er begründet damit sein Wirken und seinen unermüdlichen Einsatz für die Fortentwicklung der heimischen Land- und Forstwirtschaft. Es war ihm bewusst, dass althergebrachte Anbaumethoden neuen Erkenntnissen aus der Forschung weichen mussten um der Landwirtschaft eine Zukunft und der wachsenden Bevölkerung eine ausreichende Ernährung sichern zu können. Es bedurfte jedoch Überzeugungsarbeit, die über viele bäuerliche Generationen angewandten Bewirtschaftungsweisen aus den Starrköpfen der bäuerlichen Bevölkerung zu vertreiben. Das Zauberwort hieß "Schulbildung". Nur über die Bildung der Landjugend konnte der Weg führen und so ging Dornseiffer diesen oft beschwerlichen Pfad und wurde letztlich erfolgreich in seinem Wirken. Dass man noch heute sich Seiner erinnert und sein Leben erforscht und beleuchtet zeigt eigentlich wie erfolgreich sein Leben in dieser Hinsicht war. 

Auf dieser Seite veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung des Autors eine Abhandlung über den Wechsel der Landwirtschaft in die "ländliche Moderne" am Beispiel von Pfarrer Johannes Dornseiffer. Justus Hillebrand, M.A. ist Doktorand im Fach Geschichte an der University of Maine und der Universität zu Köln.


Heuernte zu früherer Zeit (Hengsbeck um 1935)
Heuernte zu früherer Zeit (Hengsbeck um 1935)

Moderne auf dem Land: was ist das?

 

Im heutigen Erwartungshorizont gehören die beiden Begriffe nicht so recht zueinander. Modern wird eher mit der Stadt verbunden, mit Neuerungen in Technologie, mit der Zukunft, die man schon heute genießen kann. Wenn man nicht gerade vom Land kommt, scheinen ländliche Regionen oft als rückständig, zwar irgendwie natürlicher als Städte und geeignet zur Erholung, aber bei weitem „nicht so weit“ wie die Städte. Das gleiche gilt auch für das Außenbild von ländlichen Bewohnern. Die sind nicht weltoffen, zukunftsorientiert oder innovationsfreudig, sondern stur, ewig-gestrig, konservativ skeptisch. Woher kommt dieses Bild? Und lassen sich ländliche Regionen nicht auch als modern sehen? Am Beispiel von Pfarrer Johannes Dornseiffer möchte ich vorstellen, wie die Aufarbeitung lokaler Geschichte dazu beitragen kann eine ländliche Moderne zu entdecken, welche die Gegenwart bis heute prägt.


Zwar schlug sich die Industrialisierung im 19. Jahrhundert, quasi die Hausmarke der Modernisierung, zuerst in städtischen Fabriken und allem was damit einherging nieder. Doch auch auf dem Land tat sich etwas. In den letzten zweihundert Jahren hat sich die Nahrungsmittelproduktion und ihre Produktivität um ein so vielfaches erhöht wie noch niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Andererseits hat sich die Effektivität verringert – es gibt also mehr Verschwendung, weil der Marktwert über dem Eigenwert von Nahrung steht. Ökologische Probleme wie Übersäuerung und Auslaugung des Bodens, oder die Verringerung der Artenvielfalt gingen auch mit diesem Produktionszuwachs einher. Man kann also argumentieren, dass all diese Faktoren charakteristisch für die Moderne sind. Warum werden ländliche Regionen dann heutzutage immer noch von außen oft als „rückständig“ wahrgenommen?
Dieses Bild oder dieses Narrativ der Rückständigkeit kommt nicht von gestern. Es kam zuerst mit der städtischen Industrialisierung im 19. Jahrhundert auf. Im Vergleich zu den wachsenden Städten mit neuen und schnelleren Produktionsmethoden, Lebensweisen und weltweiter Vernetzung wirkten die kleinen Dörfer auf dem Land langsam, abgelegen und in der Vergangenheit verhaftet, wenn sie auch die Nahrung und die günstigen Arbeitskräfte für die Städte bereitstellten. Auch die sich professionalisierende Wissenschaft fand eher in den Städten ein Zuhause. Dort trugen wissenschaftliche Rationalität und studierte Experten zur Steigerung der Produktivität der Industrie bei und suchten bald nach anderen Aufgabenfeldern. Gegen Mitte des 19. Jahrhundert machten sich die neuen Experten auf dem Gebiet der Landwirtschaft daran, nicht nur Innovationen zu produzieren, sondern auch dafür zu sorgen, dass diese angewendet wurden. Zwar gab es auch schon zuvor eine reichhaltige Tradition von landwirtschaftlichen Ratgebern und Versuchen, doch waren diese neuen Experten überwiegend reine Wissenschaftler, die wenig bis keine Erfahrung in landwirtschaftlicher Arbeit oder dem Führen eines Hofes hatten. Die Reform der ländlichen Gesellschaft ging nicht zuletzt mit der Reform der Landwirtschaft einher und auf diesem Gebiet beanspruchten Wissenschaftler neben Wirtschaftsunternehmern das Monopol auf die Produktion neuen landwirtschaftlichen Wissens, sowie die Deutungshoheit über die Nützlichkeit dieser Innovationen. Die Retter der rückständigen Landwirtschaft kamen aus dem Labor und der Fabrik, nicht vom Acker. 

Bis dato waren es immer noch die Bauern selbst gewesen, die ihr Handwerk am besten kannten. Zugegeben, Reformer betonten stets lediglich die universellen wissenschaftlichen Gesetze und wirtschaftlichen Prinzipien zu ergründen, nicht aber jedem Bauern genau sagen zu können wie er nun sein bestimmtes Feld bestellen sollte. Doch wanderte von etwa 1850 bis 1950 die Autorität zu entscheiden, was fortschrittlich und was rückständig sei, was der industriellen Norm entsprach und was als pre-industriell abgetan werden konnte, von den Landwirten selbst zu Agronomen, Wissenschaftlern, Beratern, Buchhaltern, Mechanikern und weiteren neuen Spezialisten in spezialisiertem landwirtschaftlichem Wissen. Mit dieser Umwälzung der ländlichen Wissensgesellschaft ging ein Prozess der Aushandlung einher, in dem die Vorgehensweise entwickelt wurde, wie Prinzipien der Industrie und der Wissenschaft in der Landwirtschaft Anwendung finden konnten. Es war eben nicht so, dass Wissenschaftler in weißen Kitteln zu ausgehungerten Bauern kamen, ihnen sagten was zu tun sei, und das war das Ende der „Rückständigkeit“. So sehr die Reformer der Zeit das auch gern wahrgehabt hätten, die Bauern, die nun zu rationalen Landwirten werden sollten, machten da nicht so einfach mit. Sie waren es ja, die die Felder bestellten und dessen Lebensunterhalt daran hing. Sie suchten also vorsichtig aus, welche Innovationen sie als nützlich annahmen, was sie als unnütz ablehnten und was sie an ihre spezifische Umgebung anpassten.
Die Standards der Industrie und Idealvorstellungen der Wissenschaft hätten nicht weiter von der komplexen Lebenswirklichkeit der Bauern abweichen können. Auf dem Land ticken die Uhren nun mal ein bisschen anders. Die Organisation landwirtschaftlicher Arbeit dreht sich um natürliche Kreisläufe der Reproduktion. Maschinen in Fabriken benutzen fossile Brennstoffe, produzieren nach Belieben und können mit Weiterentwicklung schneller produzieren. Der Bauer kann das Korn nicht schneller wachsen, die Kuh nicht schneller Milch geben und das Schwein nicht schneller werfen lassen. Während Fabriken abgeschlossene Systeme sind, kann der Bauer das Wetter nicht verändern. Die Erwartungen und Möglichkeiten von Reformern und Landwirten gingen also weit auseinander und die Bauern taten gut daran, Skepsis zu zeigen gegenüber einer neuen, weltfremden Autorität, die lokale Verhältnisse meist nicht interessierte. [1]


  [1] Vgl. Juri Auderset, Beat Bächli, Peter Moser, “Die agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft im 19./20. Jahrhundert: Akteure, Diskurse, Praktiken, in Geschichte im virtuellen Archiv. Das Archiv für Agrargeschichte als Zentrum der Geschichtsschreibung zur ländlichen Gesellschaft, Beat Brodbeck, Martina Ineichen, Thomas Schibli (Hrsg.), Baden 2012, S. 21–38.


Beim frühmorgendlichen Mähen (Bödefeld um 1920)
Beim frühmorgendlichen Mähen (Bödefeld um 1920)

Wissenschaft und Bauern

Doch es ging eben nicht nur darum, welche landwirtschaftlichen Innovationen „funk-tionierten“, sondern es ging eben auch besonders darum, wer diese Neuerungen wie vermittelte. Generell war es einfacher und wohl auch klüger dem anschaulichen Beispiel des Nachbarn auf seinem Feld zu folgen, als den generalisierten Ratschlägen eines Fremden in einem Buch Glauben zu schenken, vor allem wenn der noch nie selbst ein Feld bestellt hatte. Hier möchte ich mit einem Fokus auf Institutionen landwirtschaftlicher Bildung einsetzen. Diese Institutionen selbst und ihre Inhalte waren der Schauplatz der Verhandlungen zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaftlern und Bauern. In diesem hin und her wurden nicht nur praktische Methoden, sondern ein eigener, spezifisch ländlicher Zugang zur Moderne und ein geographisch spezifischer Zugang zu vielen ländlichen Modernen ausgehandelt. Hier traten ländliche Bewohner nun einmal nicht als strikt konservative Hindernisse auf, obwohl sie den Reformern oft so erschienen, sondern als einfallsreiche Verhandlungspartner, die gemeinsam mit Reformern eine Mischung aus alterprobtem und vielversprechend neuem entwarfen. Dies geschah zwar auf einem Spektrum, in dem Verweigerer bald ausgeschlossen wurden, wirtschaftlich wie aus der Wissensgesellschaft, (die Zahl der Bauern hat sich in diesem Jahrhundert stark reduziert), doch insgesamt war dieser Aushandlungsprozess zwischen Landwirtschaft und Wissenschaft und Industrie eine Anpassung aneinander.
Landwirtschaftliche Bildung ermöglichte diesen Aushandlungsprozess. Landwirtschaftliche Schulen, Zeitschriften, Vereine und Behörden standen zwischen diesen Polen von Experiment und Praxis. Die Reformer in und um diese Institutionen kannten jeweils die Welt der Wissenschaft und Industrie, und die Welt der praktischen Landwirtschaft. So konnten sie zwischen Experiment und Praxis übersetzen. Es war ja kein Wunder, dass sich die Bewohner dieser Welten nicht verstanden. Ihre Lebenswirklichkeiten überlappten selten bis gar nicht. Wissenschaftler arbeiteten in professionellen Netzwerken, die große Distanzen in Raum und Zeit überbrückten; sie sahen ihre Arbeit als Suche nach universellen Naturgesetzen; und der Gewinn ihrer Arbeit kam der Menschheit oder auch nur der nationalen Wirtschaft zugute. Bauern waren zwar in gedachter Generalisierung auch die profitierenden ihrer Arbeit, aber ihre komplexe lokale Lebenswirklichkeit war zunächst einmal Nebensache. Bauern wiederum konnten mit den Experimenten und Feldversuchen der Wissenschaftler erst einmal wenig anfangen. Wie konnte ihnen denn ein Naturgesetz erklären wie genau sie ihr bestimmtes Feld zu bestellen oder ihr bestimmtes Vieh zu füttern hatten? Sie hatten spezifische Probleme bei denen die Erfahrungswerte anderer Bauern in derselben Lokalität hilfreicher waren als die generalisierten Ratschläge aus Büchern. Akteure zwischen diesen beiden Welten konnten jedoch zwischen den unterschiedlichen Sprachen, Zielen und Methoden übersetzen. Genau an dieser Übersetzungsstelle lässt sich die Aushandlung einer modernen Landwirtschaft und einer ländlichen Moderne nachvollziehen.


Der "Leibsorger" Dornseiffer

Pfarrer und Pädagoge Johannes Dornseiffer ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie diese Verhandlungen in abgelegenen ländlichen Gegenden des deutschen Reichs im späten 19. Jahrhundert abliefen. Dornseiffer sorgte sich nicht nur um das Wohl der jungen Generation, indem er die erste landwirtschaftliche Winterschule im Sauerland in Fretter eröffnete. Er sorgte sich vielmehr auch um das Wohl und die Bildung der erwachsenen Landwirte. Er verstand sich nicht nur als Seelsorger seiner Gemeinde im Frettertal, sondern auch als „Leibsorger“. Er hatte das Potential von landwirtschaftlichen Innovationen der Wissenschaft erkannt und machte es sich zur Aufgabe, ob nun von der Kanzel oder im persönlichen Gespräch, die Landwirte seiner Gemeinde über die Umsetzung dieser Neuerungen auf ihren Feldern zu unterrichten.
Ich sehe ihn aber auch in der Funktion des Übersetzers in beide Richtungen zwischen Landwirten und Reformern. Für Landwirte stellte er konkrete Ratschläge bereit, was genau auf den hiesigen Feldern zu tun sei, und aus welchen Gründen. Die Naturgesetze der landwirtschaftlichen Wissenschaftler und Forderungen der Reformer übersetzte er in die lokale Lebenswelt des Sauerlandes. So ermahnte er beispielsweise die Bauern seiner Gemeinde in einer Sonntagspredigt folgendermaßen:

"Ich ging dieser Tage über den Berg nach Salwey. Da hat ein Bauer seine Ackerquecken auf den Weg geworfen. Ja, es läuft sich schön weich darüber, aber ich möchte das nicht noch einmal sehen! Die Quecken müsst ihr unterpflügen, damit sie nach ihrer Zersetzung den Boden mit Nährstoffen bereichern!" [2]

Andererseits stellte er für andere Reformer und vor allem Geldgeber der Landwirtschaftsschule offizielle Berichte bereit, die nicht nur über die lokalen umweltlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse Auskunft gaben, sondern auch über den Fortschritt und die Bedürfnisse der landwirtschaftlichen Bildung. Er stand auch im Briefkontakt mit Beamten der Region, die sich ebenfalls um die Verbesserung der Landwirtschaft bemühten. Ihnen berichtete er über seine Vorgehensweisen die lokale Bevölkerung zu erreichen und regte sie dazu an, sich mehr auf die Landwirte einzustellen und anzupassen.

In einem Brief vom 20. September 1884 richtete sich Dornseiffer an den Direktor des landwirtschaftlichen Kreis-Vereins Brilon, Landrat Federath. Er sandte ihm den vierten Jahresbericht der landwirtschaftlichen Winterschule in Fretter zu, riet jedoch davon ab, die mehreren Seiten über den Lehrplan in Zeitungen oder anderen öffentlichen Bekanntmachungen abzudrucken.

"Ich bin vielmehr der Ansicht, daß man für die Oeffentlichkeit mit einem knapp u[nd] bündig abgefaßten Programm mehr erreicht, als wenn wir in akademischer Breite den Inhalt unserer Vorlesungen ankündigen wollten." [3]

Weiterhin fügte er diesem Brief seine eigene Ankündigung in der Mescheder Zeitung bei, die in 23 Sätzen das Wesentliche über die Winterschule bekanntgab. Dornseiffer zeigte hier, dass er sich nicht nur von der Art und Weise der Kommunikation, sondern auch mit ihrem Inhalt um die Kleinbauern seiner Heimat kümmerte. 

Seine Mitteilung teilt in Kürze mit, dass die Schule:
• bis zu ihrem damaligen vierten Unterrichtsjahr bereits das Vertrauen der Bauern gewonnen und im vorangegangenen Jahr 52 Schüler aus ganz Westfalen angezogen hat;
• unter geistiger, katholischer Direktion steht;
• ihr Kursus über zwei Jahre jeweils von Anfang November bis Ende März dauert;
• ihre Schüler zwischen 16 und 20 Jahre alt sind und deren Schulgeld und Unterbringung „so billig gestellt [werden], daß auch die mittleren und kleineren Landwirthe in der Lage sind, ihren Söhnen die nöthige Fachbildung verschaffen zu können“ ; [4]


• ihr Unterricht durch einen ausgebildeten Landwirtschaftslehrer und mehrere Hilfslehrern gestellt wird, welche die Fortbildung in Elementarfächern und die Unterrichtung in Fachkenntnissen übernehmen, „um die Errungenschaften der Neuzeit auf landwirtschaftlichem Gebiete sich zu Nutzen zu machen“ ; [5]
• und zu guter Letzt auch noch „Anleitung zu genossenschaftlichem Wirken [bietet]. Der Einzelne ist ohnmächtig; Viele mit einander verbündet sind dagegen ein Faktor, mit dem im wirthschaftlichen Leben gerechnet werden muß.“ [6] 


Dornseiffer kannte die Probleme der Bauern im Sauerland, sprach diese direkt an und bot Lösungen an. Er stellte sich auch auf ihren Erwartungshorizont und eventuell auch ihren Bildungsgrad ein mit kurzen, knappen Sätzen, die ohne Umschweife zum Punkt kamen. Dieses Beispiel sandte er dem Kreisverein Brilon nicht ohne Grund mit: einerseits hoffte er auf weitere Verbreitung und Erfolg seiner Schule, andererseits hoffte er auch auf Nachahmung seiner Methode durch andere Reformer.
Diese Übersetzung in beide Richtungen zeigte sich auch in dem ebenfalls beigelegtem Jahresbericht der landwirtschaftlichen Winterschule in Fretter. Dieser umfasste zum einen die Schulnachrichten, zum anderen den Jahresbericht des landwirtschaftlichen Lokalvereins Serkenrode, der die Gründung der Schule initiiert hatte. Die Adressaten waren einerseits die örtlichen Bauern selbst und andererseits die Geldgeber und Unterstützer der Schule. An diese gibt Dornseiffer Auskunft darüber, wie seine Arbeit und die der Winterschule den Bauern zugute kam und vollführte dabei einen Balanceakt zwischen diesen beiden Zielgruppen. Er berichtet dabei auch über einen ersten Versuch in Serkenrode Inkarnatklee anzubauen und unterzupflügen. Während sich Wissenschaftler und andere Experten in überregionalen landwirtschaftlichen Zeitschriften oder wissenschaftlichen Berichten mit konkreten Anweisungen über Zeitraum und Mengen von neuen Anbaumethoden oft zurückhielten – ihre Adressaten waren ja in den verschiedensten Orten – so konnte Dornseiffer ganz konkret für das Frettertal Angaben machen. Auch kündigt er Ergebnisse des Versuches für das kommende Jahr an. Landwirtschaftliche Wissenschaftler forschten oft mit Versuchen über Jahre hinweg nach der Ergründung von Naturgesetzen und generell gültigen Prinzipien. Erst mit genug Daten konnten sie sich sicher sein, vor den Bauern nicht ihre Autorität zu verlieren. Dieser Versuch des Serkenroder Lokalvereins aber war von Bauern für Bauer. Dornseiffer konnte die Ergebnisse eines einjährigen Versuches ohne Umschweife in eine Empfehlung wandeln, was den Erwartungen der Bauern eher entgegen kam. Sie wussten, dass sie jedwede Neuerung ohnehin an die eigenen Verhältnisse anpassen mussten. Da war ein Versuch in der Nachbarschaft nicht nur vertrauenswürdiger als jedweder schriftlicher Bericht von anderswo sondern auch günstiger, da er die Anpassungsphase sozusagen auslagerte. Wie an zahlreicher anderer Stelle im Bericht ermunterte Dornseiffer die Bauern so nicht nur zur Anwendung von konkreten Elementen der modernen Landwirtschaft. Er gab auch Bericht an andere Reformer und mögliche Unterstützer über den langsamen, aber stetigen Fortschritt in der Modernisierung der Landwirtschaft.


[2] Andreas Oberdorf, „'Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott',“ in Landwirtschaftliches Wochenblatt (2015) Nr. 98.

[3] Brief Johannes Dornseiffer an den Direktor des landwirtschaftlichen Kreis-Vereins, Landrath Federath, vom 20.9.1884, Winterschule betreffend, LAV NRW W (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen), Kreis Brilon – Landratsamt, Nr. 1296, S. 46.

[4] „Landwirthschaftliche Winterschule in Fretter“ in Mescheder Zeitung, LAV NRW W, Kreis Brilon – Landratsamt, Nr. 1296, S. 48-49.
[5+6] Ebenda.


Kinder auf dem Getreidefeld (Haferernte mit Blick ins Salweytal)
Kinder auf dem Getreidefeld (Haferernte mit Blick ins Salweytal)

Die Armut der Bauern

Eine Mischung aus Rechtfertigung der eigenen Arbeit mit dem landwirtschaftlichen Lokalverein Serkenrode, dem paternalistischen Selbstbild der Reformer und der Werbung um weitere Unterstützung lässt sich auch im übrigen Bericht erkennen. Dornseiffer stellte zu Beginn ausführlich die schwere Armut der Bauern im Sauerland dar und zitierte sogar Vergleiche mit dem anscheinenden Inbegriff der Armut und der Auswanderung, der Eiffel. Er beschrieb auch, ganz im Vertrauen mit dem Leser und mit einem Augenzwinkern, die Lebensgewohnheiten der Ärmsten im Sauerland.

"Sie aßen Kartoffeln: morgens früh zum Kaffee, um 10 Uhr zum Kaffee, mittags selbstverständlich, nachmittags um 4 Uhr zum Kaffee und abends zum Kaffee. Nichts wie Kartoffel und Kaffee, wenn es wirklich Kaffee ist! Soviel im Vertrauen; nur bitte ich, mich nicht zu verraten! – also es wird auch einleuchten, daß solche Leute noch sehr der Belehrung bedürftig sind, damit sie ihren Ideen- und Wirtschaftskreis zu erweitern imstande sind. " [7]

Dornseiffer zeigt an dieser Stelle selbst Vorbehalte gegenüber den ärmsten Bauern, die anscheinend nicht Teil seines Adressatenkreises waren. Er signalisiert den Reformern und reformgesinnten Bauern, dass er ihre paternalistische Einstellung gegenüber ärmeren Bauern teilte. So schloss er auch die armen Bauern als Produzenten von nützlichem, neuen Wissen aus, sondern sah sie nur als bedürftige Empfänger dieses Wissens. Dieses sollte von seinem Adressatenkreis angepasst und von oben herab weitergegeben werden. Gleichzeitig wies er aber auch auf die Verantwortung hin, die diese Stellung mit sich brachte. Er führte die Geldgeber der Winterschule auf, dankte ihnen ausdrücklich und schrieb angesichts der hohen Kosten der Schule: „Indes Gott und gute Menschen werden weiter helfen!“
Teil dieser hohen Kosten war die teure Anstellung eines Landwirtschaftslehrers, der aber die hohe Qualität der Landwirtschaftsschule sicherstellte. Dornseiffer betonte dies ausdrücklich. Die Position dieses Landwirtschaftslehrers verdeutlicht den Kompromiss zwischen industriellem Ideal der Reformer und der landwirtschaftlichen Wirklichkeit der durch Dornseiffer und den Serkenroder Lokalverein ermöglicht wurde. Das Kuratorium der Winterschule hatte den „Ökonom“ Franz Hinders, der aus dem örtlichen Amtsbezirk stammte und im Staatsdienst tätig gewesen war, extra für die Position an der Winterschule ausbilden lassen. Seine Ausbildung an der Königlich Preußischen Landwirtschaftlichen Akademie zu Poppelsdorf bei Bonn sprach dabei für außerordentliche Qualität. Diesen Lehrer hoher Qualität stellte die Schule den örtlichen Bauern des Lokalvereins und allen Familien der Schüler während der Sommermonate kostenlos als beratenden Fachmann vor Ort zur Verfügung. Indem Dornseiffer die Bedürfnisse, Möglichkeiten und Ansichten der Bauern sowie der Reformer in Staat und Vereinen miteinander in Verbindung brachte und geistreich kombinierte, schaffte er es die Unterstützung und Kooperation beider Seiten herzustellen. Der Landwirtschaftslehrer Hinders verkörperte diese Kombination deutlich: Ein angesehener, vertrauenswürdiger und reformgesinnter Bauer guten Standes aus der Region erfuhr eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung, kehrte ins Sauerland zurück, unterrichtete im arbeitsarmen Winter die nächste Generation mit den aktuellsten Methoden anhand des örtlichen Beispiels und beriet im arbeitsreichen Sommer die gegenwärtige Generation konkret vor Ort dabei ihre Erträge mit modernen Methoden zu verbessern. Er veranschaulicht überdeutlich den Dialog und die resultierende Verwebung von industriellem Ideal – also wissenschaftlich rationale Methoden und professionelle Ausbildung – mit landwirtschaftlicher Wirklichkeit – also Abhängigkeit von natürlichen Reproduktionszyklen, geographisch spezifischer Umwelt, lokalen sozialen Netzwerken und der Sicherung des Lebensunterhaltes.
Beide Seiten, Theoretiker und Praktiker, waren essentiell daran beteiligt ländliche Orte in ihre Modernen zu führen. Doch waren es die Übersetzer zwischen diesen Polen, die als Schlüsselfiguren den Dialog steuerten, so Kompromisse ermöglichten, diese aber auch nach ihren eigenen Vorstellungen gestalteten. Sie schlossen nicht alle Bauern aktiv in diesen Prozess ein und zogen klare Grenzen wer auf welche Art und Weise an dem Aushandlungsprozess einer ländlichen Moderne teilhaben sollte. Diese Übersetzer wie etwa Pfarrer Johannes Dornseiffer zu verstehen und herauszuarbeiten wie sie die Lösungen der Probleme im späten 19. Jahrhundert formten, kann uns ermöglichen ländliche Geschichte im Licht und nicht im Schatten der Moderne zu sehen. 

[7] Vierter Jahresbericht der landwirtschaftlichen Winterschule zu Fretter für das Jahr 1883-84, Paderborn, 1884, S. 16,  LAV NRW W, Kreis Brilon – Landratsamt, Nr. 1296.